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Lieber Tilmann, lieber Gottfried,

Das ist meine erste Laudatio. Was ist das: eine Laudatio? Heute will ich, dass eine Laudatio ein Liebesbrief an euch beide ist - und an SPIELART.

Spielart ist kein Glamourportal, in dem sich jedes Jahr die zehn erlauchtesten Leuchttürme und gediegensten Theatertanker in der Hauptstadt feiern. Spielart ist nicht das deutschsprachige Theater als Showdown der Virtuosität. Kein Hahnenkampf für Kostümbildner. Kein Fundusstemmen, kein Weitspucken der Konsonanten in die Plüschsäle des Bildungspolstertums. Spielart funktioniert nicht von oben herab, ist eher ein Wurzelstock als ein Fackellauf, eher eine Buschtrommelanlage als ein Lautsprechersystem. Spielart wuchert, wurmt sich in die Stadt, legt sich daneben, dazwischen.

Spielart ist kein Gebäude. Nicht noch ein Gebäude in dieser Stadt, die nur aus Gebäuden besteht, eben kein Olympiastadion mit seinen 72 Kameras und keine BMW-Welt, wo man Autos heiraten kann, kein Motorama, das den Menschen beim Geldausgeben feiert. Spielart legt sich zwischen die Gebäude, zwischen die Strukturen, zwischen die Apparate. Denn Apparate sind das letzte was das Theater braucht. Theater ist keine Arbeitsbeschaffungsmassnahme. Nichts, auf das man sich verlassen kann. Theater ist nicht Klotz, nicht Gerät, nicht OP sondern eine Methode am wachen Menschen, eine Art Kleidung um den Organismus, der die Stellen hervorhebt und ausstanzt, an denen dieser Körper etwas zu sagen hat.

Spielart ist nicht das Festival des Als-ob-Theaters, an dem Erwachsene Menschen in einen Guckkasten steigen, um kindisch zu sein. Oder jemand anders. Oder um Worte so auszusprechen, wie sie es in der Schule gelernt haben. Der Guckkasten von Spielart ist kein Trichter, kein Einfüllstutzen, keine Einbahnpistole sondern ein Hin-und her, ein GrandSlamtischtennisturnier. Der Guckkasten von Spielart ist der Guckkasten im Kopf eines jeden Zuschauers.

Dabei gerät das Publikum in Bewegung. Spielart ist das Festival an dem die Zuschauer aufstehen, sich einlassen, sich in Betten legen, die Kostüme selbst anziehen, sich zum Tanzen einladen lassen bei Sheshepop, mitsingen bei Jerome Bel, sich an den Tisch von Eva Diamantenstein setzen. Das Festival an dem Zuschauer aufgebracht sind, wenn ihnen Forced Entertainment von der Bühne herunter erklärt, dass sie krank sind und sterben werden, weil sie glauben, was die Kunst ihnen sagt.

Bei Spielart kaufen sich Zuschauer keine Karten, um angelogen zu werden.

Der Wald von Spielart ist voller Tiere und die sucht nun ein jeder Zuschauer, bevor noch mehr Gebüsch hineingestellt wird.

Bei Spielart gibts keine Holzbalken vor den Kopf. Keine auf Bretter geschriebene Klarheiten. Spielart ist eher eine Art Labyrinth, in das man geduckt geht, in dem man sich kichernd verliert, das unterwegs immer dunkler wird, und in dem man am Ende die Welt verkehrt an die Wand projiziert sieht, wie durch die Camera Obscura von Ortograph.

Spielart ist ein Fest, aber kein Oktoberfest, kein Fest an dem viele zusammen laut sind, sondern eher ein Fest, an dem viele zusammen leise sind: ein Jörg-Kienberger-Fest oder ein Oliver-Hangl-Fest, das sich wie über Spinnenbeine in viele Mützen auf viele Köpfe verteilt, die Mützen sind von innen vertont und synchronisieren die Stadt neu mit einer Art zweiten Tonspur, einem Untertitel, einem Kommentar. Dieser Kommentar macht Fussschritte zu Fussnoten und erweitert die Zone des Eingemachten, erweitet das Sauerkraut zur abendfüllenden Malzeit.

Spielart ist eine Pirsch.

Spielart ist eine Satellitenanlage, die nicht Strahlen sondern Menschen empfängt, live, ein Museum des Lebendigen, das deshalb lebendig bleibt, weil es seine Form immer neu erfindet.

Das Museum der Menschen, die sich in ihrer technischen Umgebung beobachten, das Bildschirme nicht als Flächen nutzt sondern als Farbröhren zu anderen Menschen. Das die Interfaces und die Joysticks nicht zur Rückkoppelung des Systems nutzt, sondern durch dessen Kameras immer Menschen kriechen. Hier und jetzt, im gedoppelten Raum der Station House Opera, in den Quickshots der Big Art Group oder in den Modellschlachten von Hotel Modern. Spielart ist kein Auto sondern Pyrotechnik in ihrer ungebändigten Form, Zündung ohne Auspuff. Eine hochpräzise Dreckschleuder.

Die Hauptdarsteller von Spielart sind Actors 2000 oder 3000, Menschen, die nicht auf die Bühne gehen, um andere zu sein, sondern eher, wie es der Darsteller Robin Arthur hier in einem der Goetheforen rund ums Festival einmal sagte, um sich als Mensch anschauen zu lassen, erst mal unverstellt, einfach als Phänomen Mensch. Wie wunderbar, so Robin Arthur, dass man im Theater einfach Menschen anschauen darf. Ohne dass diese Menschen besonders viel tun. Spielart ist kein Draufsetzer sondern ein Danebensetzer. Ein Festival, in dem eine ganze Stadt auf der Bühne steht. Und gleichzeitig daneben sitzt und zuschaut. Zeuge werden, manchmal 24 Stunden lang.

Spielart ist ein Weichensystem, in dem jeder Zuschauer unaufhörlich je ein neues Gleis freilegt, in dem jeder Zuschauer auf seinem eigenen Jägersitz lauert. Erzählungen nach einem Spielartabend sind nicht identisch, weil es hier nicht den immer gleichen Film auf der einen Leinwand gibt, kein Rohrpostsystem für Botschaften, eher ein Insektenauge mit vielen Facetten. Spielart ist ein Zustand, ein ausgestanztes haluzinogenes Erlebnis, bei dem das eigene Leben als Korridor erscheint, in dem jede Tür eine andere Möglichkeit ist. Eine Party, an der permanent die Schuhe ausgezogen und mit anderen Schuhen vertauscht werden. Eine soziale Plastik.

Aber Spielart ist auch ein Stillstand, eine Zäsur, 1 Stunde stillsitzen. 2 Stunden Klappehalten. 90 Minuten Händyausschalten und bei Menschen sein. Nicht zappen. Lange auf etwas kucken und damit fertigwerden, dass es da ist, dass es etwas getrenntes von dir ist. Dass es etwas ist, was ohne dich nicht existiert, und was dir trotzdem nicht gehorcht. Etwas das einmal tot sein wird, wenn du noch lebst. Oder umgekehrt.

Spielart ist ein Sandkasten, in dem die schönsten Burgen gebaut werden, und schon wenige Tage später reibt man sich die Augen: Die Burgen sind wieder weg.

Spielart ist ein Festival, das funktioniert wie ein umgedrehter Zoo. Du gehst ins Festival hinein und schaust wie durch eine Scheibe nach München zurück. Durch diese Spielartbrille ist München nicht München sondern Münchhausen oder Monaco, Malaysia oder Malaga. Ein Abbild seiner selbst in einem anderen Breitengrad.

Spielart ist eine Bahn nach Nicht-München.

Aber kein Transrapid vom Flughafen zum Bahnhof, kein Durch-Zug: kein Festwochennaschmarkt, kein Avignongebläse, kein Bayreuth-Prêt-a-porter. Spielart ist eher ein Türchen hier und ein Link dort, eine Mitfahrgelegenheit über eine Datenautobahn, die inhaltliche Schneisen durch die Stadt legt, Schneisen in fremde Länder, die plötzlich inhaltlich direkt daneben liegen.

Argentinien liegt plötzlich in München, weil die Krise der argentinischen Politik hier auf eine Krise der deutschen Schauspielkunst trifft.

Die USA liegen in München, wenn die uralten Sänger von Young at Heart deutsche Demographie spiegeln.

Kanada liegt in München, weil die Stille auf einer kanadischen Bühne einen Tunnel zur Muffathalle hat, wie ein Computergame, durch dessen Türen man vom rechten Bildschirmrand auf den linken Bildschirmrand schlüpft.

Spielart ist ein Festival-in-Transition und plötzlich hat München eine kommunistische Vergangenheit und Riga eine Münchner Zukunft und Krakau eine Lederhose an.

Wer hat letzthin erzählt, dass der neuste BMW wieder in Tschechien erfunden werden wird, bevor er hier einen Namen hat?

Spielart ist das Festival der eingeweihten Zuschauerrudel, die gut informiert und eingeschworen von einem Geheimort zum nächsten pilgern.

Verschwörung. Überhaupt ein Anschub hier: Spielart ist eher Irland als New York. Ein Ort, an dem die Steher immer leicht schräg stehen, weil irgendetwas mit dem Boden nicht stimmt oder weil der Wind bläst und ein jeder dagegen steht wie er kann.

Spielart ist nicht das große Format. Keine berauschten 1000 in Standing Ovation. Vielleicht gibt's das große Format nur noch als Format und nicht mehr als Kunst. Vielleicht ist da etwas in seiner Monumentalität erstarrt, was bei Spielart als Geheimpfad weiterlebt, und sich gerade deshalb immer 90prozentig auslastet. Bald ist die ganze Stadt eingeweiht.

Lieber Gottfried, lieber Tilmann,

wenn eine Laudatio ein Liebesbrief ist, dann ist dieser hier ein Liebesbrief an die zwei unsichtbarsten, an die zwei bescheidensten aller Festivalmacher. Zwei Mäuse im Löwengeschäft, in dem sonst Zähne und Mähnen zählen. Aber keine Duckmäuse sondern Wühlmäuse, die in Kanälen und Tunnels unter der Erde ermitteln was jeden zweiten Herbst den Münchner Herbst zu Frühling ergrünen lässt, zwei Jäger, die nicht abschießen sondern einrahmen, damit man es sieht im Wald.

Ein Liebesbrief also an zwei Männer die gern mit doppelt verschränkten Beinen dasitzen und statt große Sprache zu blasen zuhören wie Soundingenieure oder Radiomacher, die hier und dort einen Unterton lauter drehen, ein Fiepen oder ein Scharren verstärken.

Und es ist ein Liebesbrief an das ganze Team, das wie eine Untergrundorganisation, aus eurem Büro an der Ludwigstrasse heraus alles möglich macht, was sich in München denken lässt.

So, ich habe aufgeschrieben, woran ich mich erinnere, was ich gesehen und gehört habe an eurem Festival. Oder auch nicht. Wahrscheinlich war alles anders, und ich habe das wichtigste vergessen und mir den Rest frei ausgedacht. Aber das gerade ist ja das wichtigste: Spielart ist ein Baum mit 1000 Ästen, in den ein jeder User projiziert, was er kann, ein Denksprungbrett zu dem, was man sich unter Theater noch vorstellen wird. Nach der Jagd ist vor der Jagd.

Stefan Kaegi